Die Entwicklung von Organoiden wurde mit dem Tierschutzforschungspreis ausgezeichnet
Organoide sind Mini-Versionen von menschlichen Organen, die deren Funktionen im Labormaßstab abbilden können. Sie werden unter anderem für die Erforschung von Krebs, Stoffwechselfunktionen und Infektionskrankheiten eingesetzt. Durch die Verwendung von menschlichen Zellen und Geweben bietet die Forschung mit Organoiden zahlreiche Vorteile gegenüber konventionellen Tierversuchsmodellen.
Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat daher am 22. April 2025 den diesjährigen Tierschutzforschungspreis für die Entwicklung der Organoide verliehen. Erhalten hat ihn der Niederländer Prof. Dr. Hans Clevers vom Hubrecht Institut der Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences:
Die Organoidforschung hat großes Potential, Tierversuche zu reduzieren und zukünftig zumindest teilweise zu ersetzen. Prof. Clevers hat mit seinem Team ein Verfahren entwickelt, mit dem sich Stammzellen unbegrenzt vermehren und Organoide züchten lassen. Mit deren Hilfe können biologische und medizinische Fragen der Grundlagen- und Translationsforschung sowie der Arzneimittelentwicklung untersucht werden, die bislang nur mithilfe von Versuchstieren beantwortet werden konnten.
https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2025/032-tierschutzforschungspreis_2025.html
Organoide finden auch in der Infektionsforschung vielseitige Verwendung. Wir stellen hier einige Infect-Net-Expertinnen vor, die Organoide in ihrer Forschung verwenden und damit einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung von Tierversuchen leisten:
Dr. Michelle Vincendeau

Michelle Vincendeau vom Helmholtz Munich forscht an Humanen Endogenen Retroviren, sogenannten HERVs. Diese Viren sind keine eigenständigen Partikel, sondern Teil des menschlichen Genoms und können, wenn sie aktiviert werden, die Entwicklung von Organen beeinflussen. Mit Organoiden, die das menschliche Gehirn simulieren, untersuchen Michelle Vincendeau und ihr Team, wie HERVs Einfluss auf die Gehirnentwicklung nehmen.
Die Münchner Virologin hat für uns einige Fragen zu ihrer Forschungsarbeit mit Organoiden beantwortet:
Welche neuen Erkenntnisse konnten mit den Organoiden gewonnen werden?
Michelle Vincendeau: Mit Hilfe von Gehirn-Organoiden konnten wir zeigen, dass das koordinierte An- und Abschalten bestimmter HERVs wichtig für die Bildung von Nervenzellen und deren Vernetzung in der menschlichen Großhirnrinde ist.
Unsere Arbeit liefert somit direkte Beweise dafür, dass HERVs aktiv an der Steuerung früher Entwicklungsprozesse im menschlichen Gehirn beteiligt sind.
Was sind die Vorteile von Organoiden gegenüber Tierversuchen?
MV: Mit Organoiden aus menschlichen Stammzellen können wir die Entwicklung und Funktion des menschlichen Gehirns direkt und auf zellulärer Ebene untersuchen. Mit Tiermodellen wie der Maus ist das nur eingeschränkt möglich.
Da HERVs spezifisch für den Menschen sind, sind menschliche Modelle unerlässlich, um ihre funktionelle Rolle richtig zu erfassen und zu verstehen.
Wie helfen Organoide bei der Beantwortung eurer Forschungsfragen?
MV: Durch die gezielte Modulation von HERVs mittels CRISPR-Technologie in Hirnorganoiden können wir analysieren, wie die Aktivität dieser Viren mit der Reifung von Gehirnzellen und der Entstehung neurologischer Erkrankungen zusammenhängen.
Die Organoide ermöglichen es uns somit, sowohl die normale Entwicklung als auch krankhafte Veränderungen des menschlichen Gehirns zu verstehen.
Welche Organoide werden verwendet und warum?
MV: Wir stellen Hirnorganoide her, die verschiedene Regionen des Gehirns abbilden, insbesondere Organoide der Großhirnrinde. Diese Modelle sind ideal, um die Rolle von HERVs in der frühen Hirnentwicklung und bei neurodegenerativen Erkrankungen zu untersuchen.

Weiterführende Literaturangaben finden sich am Ende des Artikels.
Prof. Dr. Stephanie Pfänder

Die Virologin Stephanie Pfänder erforscht am Hamburger Leibniz-Institut für Virologie (LIV) mit Hilfe von Lungen-Organoiden, wie sich Coronaviren und andere neu auftretende Viren im Gewebe ausbreiten. Mehr zu ihrer Forschung und dem Einsatz von Organoiden erzählt Stephanie Pfänder selbst im Vorstellungsvideo des LIV.
Prof. Dr. Sina Bartfeld

Die Zellbiologin Sina Bartfeld erforscht an der Technischen Universität Berlin chronische Entzündungen mit dem bakteriellen Magenerreger Helicobacter pylori. Besonders interessiert sie dabei, durch welche Prozesse die Infektion mit H. pylori zu schweren Erkrankungen und Krebs führt.
Organoide, die die menschliche Magenschleimhaut abbilden und Organ-on-a-Chip-Technologien helfen ihr dabei, innovative Ansätze zur Entwicklung von Medikamenten und Therapien zu etablieren.
Prof. Dr. Franziska Faber

Die Mikrobiologin Franziska Faber von der Universität Würzburg untersucht, wie es das Darmbakterium Clostridioides difficile schafft, gefährliche Infektionen zu etablieren. Dazu schaut sie sich unter anderem die Veränderung von Bakteriengemeinschaften in Organoid-Modellen des Darms an.
Dr. Susann Kummer

Auch die Virologin Susann Kummer vom Robert Koch-Institut beschäftigt sich mit neu auftretenden und dazu auch mit hochgefährlichen Viren der Risikogruppe 4, deren Handhabung anspruchsvolle Sicherheitsvorkehrungen benötigt. In Muskel- und Lungen-Organoiden erforscht Susann Kummer, wie sich Viren im Gewebe vermehren und ihre Stabilität behalten.
Dr. Carmen Aguilar
Die Mikrobiologin Carmen Aguilar von der Universität Würzburg forscht an Harnwegsinfektionen mit pathogenen Escherichia coli-Bakterien. Mit Hilfe von Organoiden des Harnwegepithels, die natürliche Infektionsherde nachahmen, möchte sie zur Entwicklung neuer Therapie- und Behandlungsansätze von antibiotikaresistenten Harnwegsinfektionen beitragen.
Dr. Dr. Angelique Hölzemer, MPhD
Immunologin Angelique Hölzemer erforscht am LIV, wie unser Körper sich gegen Viren wehrt. Diese antivirale Immunantwort untersucht sie am Beispiel des Humanen Immundefizienz-Virus, HIV. Neben zahlreichen anderen Forschungsmethoden setzt sie dafür auch auf 3D-Organoidmodelle der Leber.
Relevante Veröffentlichungen aus dem Vincendeau-Labor:
- Tschuck J, Padmanabhan Nair V, Galhoz A, Zaratiegui C, Tai HM, Ciceri G, Rothenaigner I, Tchieu J, Stockwell BR, Studer L, Cabianca DS, Menden MP, Vincendeau M*, Hadian K*. Suppression of ferroptosis by vitamin A or radical-trapping antioxidants is essential for neuronal development. Nat Commun. 2024 Sep 1;15(1):7611. doi: 10.1038/s41467-024-51996-1.PMID: 39218970. *Co-last
- Jakobsson J, Vincendeau M. SnapShot: Human endogenous retroviruses. Cell. 2022 Jan 20;185(2):400-400.e1. doi: 10.1016/j.cell.2021.12.028.
- Padmanabhan Nair V, Liu H, Ciceri G, Jungverdorben J, Frishman G, Tchieu J, Cederquist GY, Rothenaigner I, Schorpp K, Klepper L, Walsh RM, Kim TW, Cornacchia D, Ruepp A, Mayer J, Hadian K, Frishman D, Studer L, Vincendeau M. Activation of HERV-K(HML-2) disrupts cortical patterning and neuronal differentiation by increasing NTRK3. Cell Stem Cell. 2021 Sep 2;28(9):1566-1581.e8. doi: 10.1016/j.stem.2021.04.009. Epub 2021 May 4.
Titelbild: Stephanie Pfänder
Michelle Vincendeau | Helmholtz Munich
René Lesnik | Koordination Infect-Net